Jedes Jahr werden weltweit etwa eine Millionen Frauen (und ein paar Männer) mit der Diagnose "Brustkrebs" konfrontiert, in Deutschland sind es mittlerweile an die 48000 Frauen, womit es in unserem Land jede neunte bis zehnte Frau trifft. Bei etwa 20000 Betroffener i.J. kommt es früher oder später zu einer Fernmetastasierung, die dann wiederum irgendwann bei 18 000 Frauen jährlich einmal zum Tode führt. Führt man sich diese Zahlen vor Augen, dann wird offensichtlich, dass die weitaus größere Zahl der Brustkrebspatientinnen in Deutschland und anderswo eine längere Zeit mit ihrer Erkrankung lebt, als der Schrecken der Erstdiagnose vermuten lässt.
Fast jeder von Ihnen kennt, sofern nicht selbst betroffen, in seinem sozialen Umfeld mit ziemlicher Sicherheit eine oder mehrere Frauen mit Brustkrebs. Brustkrebs erhält somit mehr und mehr den Charakter einer "Volkskrankheit", über die gesprochen werden muss. Die Tatsache, dass sich Medien und Gesundheitspolitikerinnen immer mehr mit diesem Thema beschäftigen, und immer mehr Initiativen sich dem "Kampf gegen Brustkrebs" verschreiben, unterstreicht dies.
Was aber nun bedeutet das für das betroffene Individuum?
Im Jahre 2000 lebten auf der ganzen Welt 4 Millionen Frauen mit der Diagnose "Brustkrebs". Ich war und bin eine von ihnen. Im November 1993 wurde er auch bei mir als damals noch berufstätige Frauenärztin diagnostiziert. Und nun lebe ich seit über zehn Jahren mit ihm, seit Anfang 2001 in dem Stadium einer Fernmetastasierung in die Knochen, die mich als Ärztin berufsunfähig gemacht hat. Aus schulmedizinischer Sicht ist eine Heilung von meiner Erkrankung nicht mehr möglich. Alle Therapien haben damit nur noch Palliativcharakter und das eine Ziel, meine Lebenserwartung zu verlängern, und dabei vor allem meine Lebensqualität zu erhalten.
Zwar sagen mir jedoch meine ganz persönlichen Erfahrungen im Beruf als Ärztin und die immer mal wieder bei Kollegen und Kolleginnen gemachte Beobachtungen, dass Lebensqualität ein Bereich ist, in dem gerade viele MedizinerInnen sich weniger auszukennen scheinen, von daher PatientInnen gegenüber in deren spezifischer und individueller Lebenssituation schlecht therapeutisch und ratgebend zur Seite stehen können. Trotzdem scheint mir aber seit meiner Erkrankung und in der Retrospektive der letzten zehn und besonders der letzten drei Jahre nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv, d.h.aus meinem Umfeld betrachtet, gerade das geglückt zu sein: Trotz sich immer mal wieder einstellender medizinischer Rückschläge habe ich eine relativ hohe Lebensqualität erlangt.
Ein gewisses Priviligiertsein durch Kenntnisse in der Schulmedizin als ehemalige Ärztin und in gewissem Masse auch durch meinen eher individualistischen Lebenslauf ist mir dabei durchaus bewusst. So habe ich zum Beispiel einige wichtige Jahre meines Lebens in ganz anderen Kulturkreisen in verschiedenen Ländern Afrikas gelebt und gearbeitet und mir dabei eine Lebensfülle geschaffen, aus der ich jeden "kranken Tag" schöpfen kann. Es ist also nicht immer möglich, meine Situation grundsätzlich auf andere Krebspatientinnen und Krebspatienten zu übertragen.
Dennoch habe ich in dem Bewusstsein dieser neuen Lebensqualität den Versuch unternommen, einmal zu schauen, wo denn im Grundsätzlichen die Eckpfeiler dieses, meines qualitativen Lebens, sind oder waren. Das Ergebnis scheint mir zumindest berichtenswert, vielleicht sogar für mitbetroffene KrebspatentInnen und andere chronisch Erkrankte, sowie für noch Gesunde (Risikofälle?) in gewissen Ansätzen nachahmenswert. Eines möchte ich allerdings vermeiden, nämlich das Erteilen von Ratschlägen, denn Ratschläge sind und waren für mich in meinem Leben immer auch "Schläge". (Und davon haben wir Krebspatienten ja genug...)
Wichtig ist mir hierbei auch, zu betonen, dass ich mich ausschließlich als Patientin äußere, und nicht als kranke Ärztin.
Für den Begriff "Lebensqualität" existiert keine einheitliche Definition.
1. Der Brockhaus sieht in "Lebensqualität einen sozialwissenschaftlichen Terminus, einen mehrdimensionalen Wohlfahrtsbegriff, der vornehmlich auf die individuelle Wohlfahrt zielt. Zu den "Dimensionen" gehören Ziele, Werte und Prinzipien, die der Mensch im Laufe seines Lebens realisieren kann. Sicherheit, Länge des Lebens, Gesundheit, gesellschaftlicher Wohlstand und Anerkennung gehören ebenfalls dazu.
2. Die Weltgesundheitsorganisation definiert die Lebensqualität des Menschen als "Vorstellung von seiner Stellung im Leben, im Kontext des Kultur-und Wertesystems, in dem er lebt, und in Beziehung zu seinen Zielen, Erwartungen, Normen und Belangen."
3. In der Psychologie wird "Lebensqualität" als ein komplexes Konzept verstanden, das physische, psychische und soziale Komponenten, sowie die Funktionsfähigkeit im Alltag und Beruf umfasst.
Die Psychoonkologie hat sich dieses Themas logischerweise in besonderem Maße angenommen und diese Definition als Grundlage zur Erfassung von Lebensqualität genommen. Wobei sich bei genauerer Betrachtung zwei Arten von Lebensqualität heraus zu kristallisieren scheinen:
1. eine objektive und 2. eine subjektive Form von Lebensqualität.
zu 1: Mehr und mehr leben wir in einer Welt, in der alles im Rahmen von Disease-Management-Programmen (DMP) o.ä. messbar und kontrollierbar sein muss, und so interessiert man sich in einigen Bereichen unseres Gesundheitswesens - allen voran die Krankenkassen und die Pharmaindustrie - zunehmend für die Lebensqualität chronisch Kranker, wie z.B. der von Patienten unter Dialyse, nach Nierentransplantationen, mit Diabetes mellitus, und natürlich auch von Krebskranken, dies auch und vor allem unter dem Aspekt biomedizinischer Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit von neuen medikamentösen Therapien. Das Erreichen von Lebensqualität chronisch Kranker wird dabei mittlerweile als ein dem somatischen Behandlungsziel durchaus gleichwertiges herausragendes Therapieziel angesehen.
Zur Messung derselben gibt es unterschiedliche Ansätze, angefangen bei der objektiven Erfassung der somatischen Verfassung der Patienten, der Fremdeinschätzung durch die behandelnden Ärzte und Angehörigen hin zur Befragung der Betroffenen mittels Fragebögen und persönlicher Gespräche, also der Erfassung subjektiver Daten.
zu 2: Es hat mich wenig überrascht, zu lesen, dass dabei oft eine Diskrepanz herauskommt zwischen dem, was die objektive Erfassung ergeben hat und dem, was die PatientInnen selbst empfinden und äußern, also die subjektive Einschätzung. Für uns Betroffene ist nicht so sehr der messbare, objektive Gesundheitsstatus entscheidend für die Beschreibung unserer "Lebensqualität", sondern unser ureigenes Empfinden, die Art und Weise, wie wir als "chronische Patientinnen", zu denen ich mich als Brustkrebspatientin zähle, unseren Gesundheitsstatus und unser ganzes Leben mit Krebs wahrnehmen.
Ist diese nun überhaupt "messbar"? habe ich mich gefragt. Quantitativ sicher nicht, aber das Wort "Lebens-Qualität" beinhaltet ja schon, dass es eine Möglichkeit von Sammlung qualitativer Einzelfaktoren gibt. Und so habe für mich persönlich begonnen, mich einmal völlig losgelöst von wissenschaftlicher Literatur mit dieser rein subjektiven Form der Lebensqualität, meiner ganz persönlichen Lebensqualität und deren Einzelelemente auseinandersetzen.
Sie ist eine Variable und keine Beständige, diese meine ureigene Lebensqualität, sondern befindet sich in einem permanenten Prozess, der Flexibilität und Offenheit von mir, aber auch Arbeit und hin und wieder Disziplin erfordert. Dennoch lohnt es sich, sich darauf einzulassen, denn die Einsichten und Erkenntnisse, die ich in diesem anhaltenden und dauerhaften Prozess gewonnen habe, haben zu Verhaltensänderungen und Verbesserungen in meinem Leben geführt, so dass ich trotz allen Krankseins dieses nur als ein qualitativ und wertvolles ansehen kann.
Zwei wichtige Überschriften habe ich diesem "Leben in Qualität" gegeben:
1. Für mein Leben kämpfen und nicht gegen den Brustkrebs!
2. Annehmen und Loslassen.
Gleich zu Beginn meiner Erkrankung hat mich die oft gut gemeinte, auch immer wieder öffentlich gemachte, aber eigentlich nur Hilflosigkeit ausdrückende Aufforderung zum "Kampf gegen den Brustkrebs" irritiert. Dieser Kampf widerstrebte mir tief innen. Ich stellte fest, dass es mir im Grunde genommen als von einer möglicherweise tödlichen Erkrankung Getroffener an der nötigen Kraft und Bereitschaft zu kämpfen fehlte, und so lehnte ich diese militant klingende Aufforderung ab. Natürlich hatte ich auch zum Zeitpunkt der Diagnosestellung - wie leider immer mehr Menschen und vor allem auch Ärzte - ein "Burnout-Syndrom". Ein chinesischer Spruch, den ich in meinen langjährigen Tagebuchaufzeichnungen wiederfand, half mir dabei aus dem Dilemma: "Man muss im Leben immer für etwas kämpfen, nicht gegen." Das leuchtete mir ein, schien so ein Kampf doch eher energiespendend und aufbauend als kräftezehrend und destruktiv. Und so beschloss ich fürderhin nur noch für mein ureigenes Leben zu kämpfen.
Dieser Kampf beinhaltete zunächst einmal, zu schauen, was mir im Leben gut tat und was nicht. Dem Ersteren musste ich mehr Raum geben, vom Zweiten mich eher trennen, also einerseits annehmen, andererseits loslassen. So entstand ganz selbstverständlich und klar die zweite Maxime, die ich aber als Vorraussetzung für die erstere ansehe.
Im Folgenden werde ich nun etwas detaillierter auf die Einzelaspekte eingehen, die mein Leben mit Krebs lebenswert machen. Zum besseren Überblick und der Einfachheit halber habe ich dabei das Wesentliche in zwei Tabellen zusammengestellt und werde dazu einige Beispiele und Erläuterungen liefern.
Annehmen | Loslassen |
---|---|
1. Die Krankheit als mein Schicksal, mit dem ich lernen muss zu leben. | das Gefühl der Unverwundbarkeit, die Hoffnung auf vollständige Heilung. |
2. Meinen Körper als meinen besten Freund, der mir Signale schickt, nicht als mein Feind. | die Vorstellung, dass nur die Medizintechnik (Labor, bildgebende Verfahren) mir Hinweise auf meinen Gesundheitszustand liefert. |
3. Meine eigene "Endlichkeit", den Tod. | das Gefühl der Unsterblichkeit. |
Die körperliche Behinderung, die Versehrtheit. | die Vorstellung nur als gesunder Mensch ein wertvoller Mensch zu sein. |
5. Die Angst als aktivierenden Faktor im Leben. | die Angst als lähmenden Faktor meines Lebens. |
6. Schulmedizin als Hilfsmittel im Leben mit Krebs; Mediziner als Berater, nicht als meine Heiler. | die Vorstellung, dass irgendeine (unsere) Medizin allein mich gesund machen wird. |
7. Die Hilfe anderer, auch fremder Menschen und die von Freunden. | den Drang immer stark sein zu wollen, auf keine fremde Hilfe angewiesen zu sein. |
8. Die Tatsache, dass ich immer noch viel unnötigen Ballast mit mir trage. | von Menschen und Dingen, die mir schaden. |
Ad 1: Die Krankheit als mein Schicksal, mit dem ich lernen muss zu leben
Viele meiner Patientinnen in Afrika und Deutschland haben mir durch ihr eigenes Beispiel dazu verholfen, aber auch Bücher, die ich gerade zu Beginn meiner Erkrankung gelesen habe. Vor allem aber auch ein Film: "A beautiful mind" , der die authentische Geschichte eines schizophrenie-kranken genialen Mathematikprofessors (Prof. John F.Nash) erzählt, dessen Leben erst wieder in geordneten Bahnen verläuft, nachdem er seine Krankheit rational erkannt und angenommen hat, und der letztendlich 1994 sogar den Nobelpreis erhielt.
Ad 2: Meinen Körper als meinen besten Freund, der mir Signale schickt, nicht als mein Feind
Meine eigene Entdeckungsgeschichte: Meine Diagnose "Brustkrebs" erfolgte im Anschluss an eine Fastenwanderung, die ich mitmachte aus dem Bedürfnis heraus, mich mal wieder etwas mehr auf meinen Körper zu konzentrieren (auch sein Gewicht zu reduzieren!). Das Resultat waren u.a. Schmerzen im Thoraxbereich, die eine entsprechende Diagnostik auslösten. Seitdem betrachte ich meinen Körper als meinen besten Freund, der mir vorher zwar schon genügend, von mir allerdings missachtete Signale geschickt hatte, nun aber durch die Krebserkrankung ein STOP-Schild: bis hierher und nicht weiter! So habe ich gelernt, nicht nur auf seine Signale zu achten, sondern ihn auch in seiner mangelnden Perfektion zu lieben und ihn deswegen besser zu pflegen.
Ad 3: Meine eigene "Endlichkeit", den Tod
Wie bei fast allen Krebspatienten kam auch bei mir nach der Diagnosemitteilung als einer der ersten Gedanken: "Jetzt muss ich also sterben!" Klar, sterben müssen wir natürlich alle. Warum aber haben wir dann so eine Angst davor? Diese Frage stelle ich mir seitdem immer wieder, und ich denke, sie ist für jeden Menschen lohnenswert. Diese Auseinandersetzung mit meinem irgendwann bevorstehenden Tod mindert meine Angst vor ihm, eigentlich ist sie schon fast nicht mehr existent. Geholfen hat mir dabei dabei die Frage, wie es wohl wäre unsterblich zu sein, und das hat mich an ein Buch von Simone de Beauvoir erinnert, welches mich in meiner Jugend fasziniert hatte ("Alle Menschen sind sterblich") und welches mir klar gemacht hatte, dass Unsterblichkeit eine Qual wäre. Mein Leben mit Krebs hat mich daran erinnert, mich dazu gebracht, mich mehr als in unserer Gesellschaft üblich, mit dem Tod- meinem Tod- auseinanderzusetzen und zu versöhnen. Und ich möchte zwar noch lange leben - nicht zuletzt weil es doch ganz schön ist, mein Leben, aber ich möchte auch lernen, sterben zu können.
Ad 4: Die körperliche Behinderung, die Versehrtheit
Wie in unserem gut durchstrukturierten Gesundheitssystem automatisch, erhielt ich zu Beginn meiner Erkrankung einen Schwerbehindertenausweis auf "Heilungsbewährung"! Diese wie ich finde unglückliche Formulierung hat in mir zwei Reaktionen ausgelöst: Einmal habe ich mich durch meine Erkrankung so etwas wie kriminalisiert gefühlt, aber auch und vor allem diskriminiert. Wofür ich dann leider auch im Weiteren, sicher auch aufgrund einer gewissen Sensibilität meinerseits, immer wieder Bestätigung fand. Die gedachten Vorteile, die man als Behinderte in unserer Gesellschaft haben sollte, sind ja, wenn überhaupt, nur in geringem Masse finanziell, d.h. steuerlich. Am Anfang stand, psychologisch betrachtet, bei mir also erst einmal Strafe und Ausgrenzung. Erst nachdem ich mir bewusst gemacht hatte, dass in meiner eigenen familiären Umgebung und in unserer Gesellschaft schwer behinderte Menschen leben und lebten, die ihr Leben gemeistert haben und Wertvolles geschaffen haben, habe ich mich mit meiner eigenen Versehrtheit versöhnt.
Ad 5: Die Angst als aktivierenden Faktor im Leben
Einige unüberlegte und verletzende Worte und Reaktionen vor allem von männlichen Kollegen haben mich zu Beginn meiner Erkrankung so irritiert, dass ich mich fragte, warum sie so unangemessen auf meine Krebserkrankung reagierten. Die Antwort fand ich eines Tages in einem Aufsatz von Albert Camus, in dem er vom 20. Jahrhundert als dem "Jahrhundert der Angst" schreibt. Ja, wir haben alle Angst, die Menschen um mich herum, vor allem auch die Kollegen. Und so habe ich mich intensiv mit dem Thema "Angst" auseinander gesetzt. Diese Auseinandersetzung war für mich selbst eine therapeutische und heilende, zumindest in Bezug auf den lähmenden Faktor von Angst. Seitdem fühle ich mich weitgehend frei von Angst, es gibt in meinem Leben wesentlich mehr Platz für Zuversicht und Vertrauen.
Ad 6: Schulmedizin als Hilfsmittel im Leben mit Krebs; Mediziner als Berater, nicht als meine Heiler; Salutogenese
Dass es nicht nur eine Medizin, nämlich die von mir erlernte Schulmedizin, auf dieser Welt gibt, sondern eine Vielzahl von "Medizinen", ist mir natürlich durch meine frühen Aufenthalte in Afrika vor meiner Erkrankung bewusst gewesen. Dennoch war es die Medizin, die ich mehr oder weniger beherrschte, und die letztlich mir in einem vergleichsweise frühen Stadium (wenn auch nicht der Früherkennung) half, meine Erkrankung zu diagnostizieren. Dank der wissenschaftlichen Erkenntnisse dieser auf Pathogenese beruhenden Medizin, habe ich mir meine eigene Krankengeschichte rekonstruieren können, eine mir durchaus hilfreiche Erklärung gefunden, warum ich ausgerechnet an Brustkrebs erkrankt bin.
Die Frage des therapeutischen Umgehens mit meiner Krebserkrankung, die wurde bei immer wieder neu auftretenden Rezidiven auch immer wieder neu beantwortet, und bisher glücklicherweise mit Erfolg. Diesen Erfolg aber schreibe ich nicht nur der Schulmedizin zu, sondern und in erster Linie meinem Körper und meiner Seele. "Salutogenese" interpretiere ich für mich so, dass ich mir immer wieder klar mache, was für eine phantastische Einrichtung unser menschlicher Organismus ist und wie viel bei aller Pathologie in ihm noch wunderbar funktioniert! Es geht also im Leben mit einer Krebserkrankung auch darum, diese funktionierenden Organe zu unterstützen und sie zu pflegen und Schaden von ihnen abzuwenden.
Ad 7: Die Hilfe anderer, auch fremder Menschen und die von Freunden
Als eine dieser jahrzehntelangen "hilflosen Helferinnen" ist es mir natürlich anfangs äußerst schwer gefallen, mich in die Rolle einer Patientin sehen zu müssen, die teilweise für die einfachsten Verrichtungen des täglichen Lebens auf die Hilfe von pflegendem Personal angewiesen ist. Ganz schnell aber habe ich dabei auch feststellen können, dass diese das eigentlich gerne tun, wenn man sich fallen lässt in ihre Hände. Ebenso ging es mir mit einigen wunderbaren Freundinnen und Freunden (Kolleginnen und Kollegen) und Verwandten, die auf einmal alle wie selbstverständlich da waren, zum Teil auf eine sehr fürsorgliche Weise. Viele davon gehören auch noch nach Jahren zu meinem mittlerweile mir selbst aufgebauten privaten "Netzwerk". Sie machen mir damit ein großes Geschenk und tragen ganz wesentlich zu meiner ureigenen Lebensqualität bei. Dafür bin ich sehr dankbar.
Ad 8: Die Tatsache, dass ich immer noch viel unnötigen Ballast mit mir trage
Fast im gleichen Moment, in dem ich mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert wurde, kam bei mir das Bedürfnis hoch, eine Psychotherapie zu machen. Mir war klar, dass ich viel psychischen Ballast aus meinem bis dato 44 jährigen Leben mit mir herumtrug. Einiges davon konnte ich dann in zweieinhalbjähriger Psychotherapie abtragen, aber natürlich nicht alles. Das Bedürfnis nach Klarheit und Ballastfreiheit, vor allem von Menschen, die mir nicht gut tun, ist mir als permanentes geblieben. Hinzu kommt, dass ich bei einem meiner gelegentlichen Ausflüge in die Esoterik auf die chinesische Kunst des "Feng Shui" gestoßen bin, die eine auch rein materialistische Entrümpelung von Altlasten als Voraussetzung für ein wohlgefühltes Leben nennt. Zwar habe ich es zugegebenermaßen noch lange nicht geschafft, mich von vielen Altlasten zu trennen, aber ich versuche es immer wieder in meinem Prozess der Lebensqualität.
Für... | damit gegen | Wie? |
---|---|---|
Gesundheit | Krankheit | Salutogenetische Gedanken: Was ist eigentlich in mir gesund, wo funktioniert mein Körper auf wunderbare Weise? Vermeidung von Noxen (Nikotin) |
Entspannung | Verspannung | Musik, Lesen, ausreichend Schlaf, regelmäßige Physiotherapie, Feldenkrais u.a. (auch im Wechsel) Gefühle zulassen, auch mal sentimental werden und weinen. |
Gelassenheit | Hektik und Stress, verkrampfende Angst | Mit "aktiver Gelassenheit ans Ziel", Lebensplanung in einem gewissen Rahmen halten, Dinge auf mich zukommen lassen und der Zeit Raum geben.... Je nach Lust auch mal wieder etwas riskieren. |
Eigenständigkeit | Fremdbestimmtheit | Mich immer fragen: "Was will ich, was ist gut für mich?" |
Widerspruchslosigkeit | die Widersprüche in meinem Leben | Frage: "Liege ich im Widerspruch zu diesem Menschen oder diesem Tun?" Wenn ja: Einleitung entsprechender beruflicher und privater Veränderungen. |
Vertrauen (vor allem gegenüber den mich betreuenden Ärzten) | Misstrauen | Einfach so.... Warum sollten sie mir etwas Böses wollen? Bei wichtigen Entscheidungen Vorinformationen einholen via Medien, Internet, Freunden und Bekannten. |
Bewegung | Trägheit | (nach Möglichkeit) Früh aufstehen und gleich mich bewegen (Heimtrainer), im Wald Spazierengehen, so lange es geht und meine Knochen mich tragen... |
gesunde Ernährung | Belastung meines Organismus mit Schadstoffen (bes. Carcinogenen) | Mich informieren über eine gesunde Ernährung ( z.B. das Buch "Dein Leben in deiner Hand" von Jane Plant), gezielt und geplant einkaufen! Regelmäßig und mäßig essen, wenig Fleisch! |
einen aktiven Geist | geistiges Konsumieren | Lesen, lesen....(auch im Internet) kulturelle Angebote nutzen, an Seminaren (aktiv) teilnehmen, ein neues Studium beginnen! Fernsehen in Maßen und gezielt! |
Humor | Humorlosigkeit | Die skurrilen Dinge des Lebens immer wieder neu zu entdecken suchen.... Viel Lachen! |
die Schönheiten und Wunder dieser Welt | Traurigkeit und Mutlosigkeit | In die Natur gehen, Reisen und meine Sinne (Augen und Ohren) offen halten für Anderes und Andere.... |
Den sicher gut gemeinten Rat, jeden Tag zu leben, als wenn es der letzte wäre, halte ich für erschreckend und unangemessen. Immerhin habe ich durch meine Krebserkrankung eine neue Art von Leben erhalten, von dem ich zwar nicht weiß, wie lange es noch sein wird, welches aber immer neue Herausforderungen an mich stellt. Es gibt also immer noch ein Leben vor dem Tod. Wenn ich aus allen meinen Erfahrungen ein Fazit ziehe und mich frage, wie ich denn nun meine Tage verbringe, dann nehme ich lieber den Rat an, jeden Tag so anzugehen, als wenn es der erste meines Lebens wäre. Ganz so wie es dem kleinen kranken Oskar in dem reizenden Büchlein von Eric/Emmanuel Schmitt von der "Dame in Rosa" geraten wird.
Lange Bücherlisten machen einen Artikel nicht unbedingt wertvoller, daher hier nur ein kleiner Auszug der Bücher/Artikel, die mir besonders hilfreich waren:
1. "Diagnose Krebs. Wendepunkt und Neubeginn" von Lawrence Le Shan; Klett-Cotta; ISBN 3-608-95794-4
2. "Aktive Gelassenheit als Ziel" von Prof.Dr.Dr.hc.Heinrich Beck, Bamberg (persönliche Mitteilung, Auszug aus einer Festschrift der Universität Bamberg für H. Beck zum 65. Geb. S. 211-231.)
3. "Die Weisheit des Körpers - Kräfte der Selbstheilung" von Heiko Ernst; Verlag Piper;ISBN 3-492-03625-2
4. "Weder Opfer noch Henker, Das Jahrhundert der Angst" von Albert Camus; Diogenes Verlag;ISBN 3-257-70042-3
5. "Dein Leben in deiner Hand - Ein neues Verständnis von Brustkrebs, Prävention und Heilung" von Prof.Jane Plant; Verlag Arkana Goldmann;ISBN 3-442-33638-4
6. "Es wird mir fehlen, das Leben" von Ruth Picardie; Verlag rororo;ISBN 3-499-22777-0
7. "FENG SHUI gegen das Gerümpel des Alltags" von Karen Kingston; Verlag rororo; ISBN 3-499-60813-8
8. "Oskar und die Dame in Rosa" von Eric/Emmanuel Schmitt; Ammann Verlag;ISBN 3-250-60057-1
Autorin:
Dr. med. Christine Jäger /2004
Veröffentlichung in Absprache mit der Verfasserin
Nachtrag im April 2006:
Christine Jäger ist im Februar 2006 friedlich eingeschlafen, sie hatte lange mit ihrer Krebserkrankung gut gelebt. Noch im Sommer 2005 haben wir gemeinsam auf meinem Balkon gesessen und sie hat mir von ihren Plänen erzählt.
Sie hat Abschied genommen, als die Krankheit nicht mehr aufzuhalten war.
Ich danke ihr, dass sie uns hat teilnehmen lassen an ihrem Leben.
Au revoir, Christine!
Claudia Schumann